Satire, Alltägliches und andere Absurditäten

 

Gibt es ein Sein im Nicht-Sein

Existentielle Fragen brauchen wir uns in der ersten Welt nicht mehr stellen. Außer, wir ließen uns zu sehr auf moderne Raubritter, nämlich Banken ein. Ansonsten überlassen wir diese Fragen getrost den Menschen in der dritten Welt – ohne ihnen wirklich die Wahl zu lassen. Welche Fragen uns heute zu beschäftigen haben, darüber bin ich nun bestens informiert. Weil ich Urlaub machen wollte. Allein. Zugegeben, ich brauchte den Urlaub dringend. Ich hatte mich mal wieder gänzlich verausgabt. Ich wollte meine Seele und meinen Körper mit frischer Energie und positiven Gedanken anfüllen. Und dies schien mir allein besser gelingen zu können, als mit meiner Freundin. Denn wir befanden uns in einer etwas unentspannten Phase. Mir war klar, dass dies mit ihrem Prüfungsstress und meinem Arbeitsstress begründet werden konnte. Aus diesem Grunde war es wohl ehr ein vorübergehender Zustand. Einen Urlaub wollte ich dennoch lieber ohne sie verbringen.

            Eines Abends kurz vor meinem Urlaub traf ich meinen ehemaligen Schulkameraden Eduard beim Einkaufen. Er war braun gebrannt, hatte eine schlanke Statur, volles Haar und ein breites Grinsen im Gesicht. Ich fragte ihn, ob er eben aus dem Urlaub zurückgekommen wäre. Er lachte und zog ein Programmheft eines nahe gelegenen Freizeit- und Seminarzentrums aus der Tasche. Darin zeigte er kurz auf einige Seminare, die er dort besucht hatte, und meinte, er fühle sich wie neu geboren. Das Programmheft lieh er mir gerne aus. Noch am selben Abend begann ich mit der Lektüre. Ich erwartete Töpferkurse, Malkurse oder sonstige kunsthandwerkliche Aktivitäten, die einen den Alltag vergessen lassen konnten – und fand Wunderliches.

            Der erste Kurs war kein Kurs sondern ein Seminar, wie alle Folgenden auch. Es ging um den Bau und die anschließende Benutzung einer Schwitzhütte, ausschließlich von Männern. Fand ich ganz prima. Nur nicht, was ich in der Beschreibung las: „Männer-Initiation mit den vier Grundmustern des gereiften Mann-Seins: Liebhaber, Magier, König und innerer Krieger – je nach Jahreszeit. Nahe und tiefe Begegnungen im Männer-Kreis.“ Uuups. Welcher Mann wäre nicht gerne ein guter Liebhaber, ein Magier oder ein König? Am liebsten alles auf ein Mal. Aber bitte dauerhaft, nicht nur im Sommer oder Winter. Und hätte ich wirklich nahe und tiefe gleichgeschlechtliche Begegnungen haben wollen, hätte ich einen Single-Urlaub auf Lesbos gebucht. Also, das war nichts für mich. Schon gar nicht das nächste Seminar: „Die Kraft der Magenta-Energie. Magenta-Training und Einweihung. Aufbau-Seminar nach Besuch des Aura-Seminars“ In der Beschreibung stand, dass die Seminarleiterin die Farben der Aura sehen könne, und von der geistigen Welt beauftragt wurde, mit der Magenta-Energie zu arbeiten. Aha. Mir war bisher die Farbe Magenta nur als eine der Grundfarben im industriellen Vierfarbdruck bekannt. Außerdem dachte ich, dass der Konsum der Droge LSD längst nicht mehr in sei. Ja, ja, so kann man sich täuschen. Ich war gespannt auf das nächste Seminar. Das hieß „Feuerlauf, Schritte über die Schwelle. Lernen Sie, über glühende Kohlen zu laufen. Preis 155,- Euro inklusive mentaler Vorbereitung.“ War die mentale Vorbereitung ein Sich-Mut-Antrinken mit hochwertigen Destillaten? Wenn nicht, dann schien mir das Preis-Leistungs-Verhältnis mehr als unangemessen. Ebenso der Begriff Seminar. Ich war vor Jahren mit Freunden ganz spontan mehrmals barfuß über glühende Kohlen gelaufen und wusste, dass zur Vorbereitung schlicht ein bisschen Mut und naturwissenschaftliches Verständnis notwendig sind. Und natürlich ein Handtuch, das man zum Abtrocknen verschwitzter Füße benötigt. Sonst bleiben glühende Kohlenstücke dran kleben. Und das tut weh. Gut, man muss auch wissen, dass man nicht mitten in der Glut stehen bleiben sollte. Tut ebenfalls weh. Das sagt einem jedoch der Verstand. Ich dachte mir, jetzt nur nicht aufgeben. Irgendwo in diesem Programm musste es schließlich ein Seminar für mich geben.

            Das Nächste war es ebenfalls nicht: „Maya Schule für kosmisches Bewusstsein, geleitet von einem Schauspieler und Heiler, der direkter Schüler eines galaktischen Maya-Priesters ist. Ein transpersonales, essentiell-schamanisches Retreat zur Befreiung des aktuellen Seelenweges und zur Installation eines höherfrequentigen kosmischen Bewusstseins“ Wie das? Per USB oder DVD? Wer an Däniken glaubt, zweifelt nicht an der Qualifikation des Seminarleiters. Der ist auch bereit, sich ein höherfrequentiges kosmisches Bewusstsein für 210,- Euro installieren zu lassen. Trotz der Gefahr einer Übertaktung. Ich glaubte schon damals nicht an Däniken und fand zudem die Kombination Schauspieler und Heiler äußerst fragwürdig. Wenn schon Placebo, dann bitte nicht so teuer. Das bieten selbst die raffgierigen Pharmakonzerne deutlich billiger an. Weiter ging’s. „Klärende Fastenwoche – leichtes Fasten in der Gruppe“. Au Backe! Ich hatte plötzlich eine eklige Vision: Alle Seminarteilnehmer bereiten – im Kreis angeordnet und mit dem Seminarleiter in der Mitte – mit einem gemeinsamen Einlauf ihren Darm für die Fastenzeit vor. Aus der Beschreibung war leider nicht zu entnehmen, ob meine Vision dem tatsächlichen Ablauf entsprach. Schade, denn das Seminar beinhaltete Malen und Töpfern, und dafür hätte ich sogar ein paar Kilo abgespeckt. So konnte ich mich eben so wenig für dieses Seminar entscheiden wir für das Nächste: „Im Feuer brennen. Beim Tanz zu feuriger Musik die eigenen Feuerqualitäten und die göttliche Urkraft, die wie ein loderndes Feuer in jedem Körper wohnt, kennen lernen, und mit einem speziellen Feuerritual die liebenden Herzqualitäten erforschen.“ Das schien mir ein äußerst gefährliches Seminar zu sein. So viel Feuer war selbst mir erfahrenem Feuerläufer zu riskant. Ob für den Fall der Fälle genügend Feuerlöscher griffbereit waren? Und warum war es nicht Pflicht, feuerfeste Kleidung mitzubringen? Das fand ich ziemlich verantwortungslos von den Veranstaltern.

            Was für eine Bezeichnung für das nächste Seminar! „Mindfuck and Bodywork – kognitiv-emotionaler, kommunikativ-spiritueller und evolutionärer Tanz“. Das musste ich ein zweites Mal lesen. „Mindfuck and Bodywork – kognitiv-emotionaler, kommunikativ-spiritueller und evolutionärer Tanz“. Ist da zu befürchten, dass man sich als Teilnehmer des Seminars durch übermäßiges Schreien und Tanzen auf eine dem Neandertaler ähnliche evolutionäre Stufe rückentwickelt? Um dann den Rest des Lebens auf dieser Stufe zu verharren? Dass Mindfuck irgendwas mit Tanz zu tun haben sollte, erleichterte mich jedoch etwas. Denn beim ersten Mal Durchlesen dachte ich sofort an irgendwelche Schweinereien und wollte das Programmheft deshalb schon bei Seite legen. So blätterte ich neugierig und aufgeschlossen, wie ich nun mal bin, brav weiter. Noch immer in der Hoffnung, das Passende für mich zu finden. Das nächste Angebot war ein Vortrag und hatte einen mir gänzlich unverständlichen Titel: „Eintritt in die spirituelle Dimension durch das Erwachen der Kundalini und die Chakren: Die Brücke zum Regenbogen-Körper. Vorgetragen von einer Koreanischen Schamanin“. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich auf die Frage meiner Kollegen, wo ich meinen Urlaub verbracht hätte, antworten würde, ich wäre unter Anderem in dem Vortrag mit dem Titel gewesen: „Eintritt in die spirituelle Dimension durch das Erwachen der Kundalini und die Chakren: Die Brücke zum Regenbogen-Körper.“ Ganz ehrlich, „Ich war im Töpferkurs“ hätte mir als Antwort schon viel besser gefallen. Das hätte auch jeder gleich verstanden. Doch dieser wollte nicht kommen. Stattdessen zusätzlich ein Seminar von der Koreanischen Schamanin mit einem mir ebenso unverständlichen Titel: „Mu-A-Shamanic Trance Healing Art Trance-Workshop“. In der Beschreibung hieß es, das Mu-A wörtlich übersetzt Nicht-Selbst sein bedeute und erstrebenswert sei, da es zum Göttlichen führe. Ehrlich gesagt verzichtete ich gerne auf das Göttliche. Ich hatte an stressigen Tagen oft genug das Gefühl, nicht ich selbst zu sein. Das fühlte sich wahrlich nicht angenehm an. Dafür war mir mein Urlaub zu schade. Das nächste Seminar hieß: „Frauen gestalten ihren eigenen Engel aus Baumrinde“ Was soll das denn? Malen Frauen, die unter Anleitung ihren Engel gebastelt haben, anschließend einen schönen Prinzen auf einem weißen Pferd? Und warten die dann geduldig darauf, dass dieser aus dem Papier empor steigt, um sie in sein Wunderland mitzunehmen – mit dem Baumrinden-Engel in der Hand?

            Nun kam endlich ein Workshop, dessen Thema ich ansprechend fand: „Geld und Erfolg anziehen. Geld als Energieform verstehen und kontrollieren“ Wollen wir das nicht alle? Schnell war mir klar, dass der Seminarleiter selbst seine Lektionen hervorragend gelernt haben musste. Falls sich zwanzig Teilnehmer für dieses Wochenende anmeldeten, zog Mister Erfolg reichlich Energie in Form von etwa 5400,- Euro an. Von ihm konnte man wirklich was lernen. Um so viel finanzielle Energie zu erhalten, musste ich mich mehr als nur ein Wochenende lang bei meiner Arbeit anstrengen. Das war mir dennoch lieber, als zukünftig selbst als Seminarleiter gutgläubige Teilnehmer abzuzocken. Ich blätterte weiter und fand reichlich Seminare, in denen es um die „Fünf Rhythmen“ – mit Copyrightzeichen – und um „The Art of Being“ ging – ebenfalls mit Copyrightzeichen. Deren erklärende Texte verstand ich nicht wirklich. Nur, dass sie zu einem Selbst führen sollten. Allerdings auf manch merkwürdigen Wegen des Nicht-Wissens und sich trotzdem selbst Feierns und Liebens und des schon erwähnten „Mindfuck“. Ich fand auch ein Seminar, das einen lehren sollte, durch einfaches Handauflegen massieren zu können. Jedoch lernte man dort, nicht den physischen sondern den Energiekörper zu massieren. Und nur im teuren Fortgeschrittenenkurs. Das wäre vielleicht eine gute Grundlage für das nächste Seminar gewesen: „Auch Tiere überleben den Tod – Kontakte mit dem jenseitigen Tierreich“. Wahrscheinlich konnte man bei diesem Seminar lernen, den Energiekörper seines verstorbenen Haustieres zu streicheln. Zumindest wurde garantiert, dass sich die Tiere ihren ehemaligen Besitzern deutlich zu erkennen geben würden. Hoffentlich nicht durch Urinieren in die Seminarraumecken. Oder durch einen unheilbaren Tinitus, dessen Dauerton ein anhaltendes lautes Bellen oder Miauen wäre.

            Das nächste war ein reines Frauenseminar „Bildhauen für Frauen mit Alabaster – tauchen Sie ein in eine neue Raumzeitsphäre, die Ihnen eine neue Dimension erschließt, während Sie den Stein im Zwiegespräch mit ihm zu einem Schöpfungswerk bearbeiten, das, im Lot stehend angebohrt, seine Resonanz im Raum entfaltet.“ Aber hallo! Besteht da die Gefahr, dass solch eine Resonanzentfaltung zu einer Versteinerung der im Raum befindlichen Menschen führt? Und was ist, wenn zwei dieser Alabasterschöpfungen sich finden, sich rasend schnell vermehren und die Weltherrschaft übernehmen? Zum Glück bin ich ein Mann und somit unschuldig, da ich den Kurs ohnehin nicht besuchen durfte. Den folgenden Specksteinbearbeitungskurs hätte ich gerne besucht. Ich fand allerdings 194,- Euro zu teuer. So viel kostete es, sich von einem der farbigen Specksteine anziehen zu lassen und diesen zu erforschen, indem man ihn dann drei Tage lang bearbeitete. Ich war mir auch sicher, ich hätte allen Teilnehmern die Stimmung versaut, wenn ich schon nach einer Stunde gerufen hätte: „Ich bin fertig. Was jetzt?“ Ein Seminar zum Thema Traumfänger Basteln fand ich leider nirgendwo. Diesen zotteligen Federwindspielen wurde doch immer so viel Gutes nachgesagt. Aber das war wohl inzwischen out. Dabei hätte sich mein kleiner Enkel über so ein Ding über seinem Bett sicher gefreut.

            Und der Töpferkurs ließ auch auf sich warten. Dafür fand ich reichlich Seminare zum Thema Beziehungsgestaltung, die auch das Wiederaufbauen von sexueller Anziehung in der klassischen Zweierbeziehung zum Thema hatten. Wundern tat mich das nicht. Denn in den Kreisen, in denen sich zum Beispiel Eduard bevorzugt bewegt, kleidet man sich nach meinem Geschmack niemals sexy. Die Leute bevorzugen eher weite, Figur verhüllende Kleidungsstücke. Diese sind gelegentlich zwar bunt wie Balzkostüme, jedoch äußerst grob geschnitten. Die Schuhformen sind denen oft ähnlich, die speziell für ältere Menschen in Sanitätshäusern hergestellt werden. Ich fand, dass in diesem Programm ein Seminar „Wie kleide ich mich bequem und trotz dem attraktiv?“ fehlte. Für sinnvoll erachtete ich ebenfalls ein Seminar, in dem große Teile dieses Seminar-Programms erklärt würden. In dem auch erklärt würde, wie beim Seminar „Mandala-Malen von Bildern der Stille mit gleichzeitigem Mantra-Singen“ während des Singens stille Bilder entstehen konnten. Wie malt man dann bitte laute Bilder? Können das nur stumme Maler? Dass Frauen in einem Seminar lernen sollten, sich Tantrisch zu reinigen, konnte ich mir schon einigermaßen zusammenreimen, ohne die Beschreibung zu lesen. Ich vermutete, dass es um den weiblichen Energiekörper ging. Und dass der sich nicht einfach mit Duschgel reinigen lässt.

            Mir war inzwischen klar, dass selbst wenn ich einen Töpferkurs gefunden hätte, ich diesen nicht hätte buchen dürfen. Bei dieser unglaublichen Menge an Spiritualität, die offensichtlich jedes Seminar voraussetzte, befürchtete ich, dass beim Versuch, einen Aschenbecher zu töpfern, meine Seele aus Mangel an spiritueller Erfahrung zu einer grobstofflichen Sternschnuppe transformiert und im kosmischen Nicht-Sein mit solch einer Wucht explodiert wäre, dass die Explosion den gesamten Planeten in einen lichtlosen interkosmischen Raum katapultiert hätte. Dafür liebte ich das Leben und die Menschen auf diesem Planeten doch zu sehr. So beschloss ich, meinen Urlaub mit spannenden Büchern, langen Spaziergängen und netten Besuchen bei Freunden zu verbringen. Ich reinigte endlich mal wieder meine aufgeladenen Kristalle aus dem Himalaya im nahe gelegenen Bach, kochte jeden Tag was Leckeres für mich und meine Freundin und fragte regelmäßig ihren gelernten Stoff ab. Ein weiser Entschluss. Denn das brachte uns rasch die verloren gegangene Harmonie zurück. Und wir sind noch heute seminarlos glücklich.

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